Ostdeutschland ringt weiterhin mit seiner sich wandelnden Identität, die von der Vergangenheit in der DDR und den Herausforderungen der Wiedervereinigung geprägt ist. Diese Identität ist nicht nur politisch; sie umfasst kollektive Erfahrungen, kulturelle Erinnerungen und anhaltende Gefühle von Ungerechtigkeit. Während eine umfassendere deutsche Identität existiert, entsteht zunehmend ein starkes Bewusstsein für eine eigenständige ostdeutsche Identität, die sowohl kulturelle als auch politische Narrative beeinflusst.
Die 1990er Jahre brachten tiefgreifende Veränderungen mit sich: Westdeutsche Eliten füllten institutionelle Positionen im Osten, lokale Industrien verschwanden, und die Arbeitslosigkeit stieg rapide an. Trotz einer Nostalgie für die Kultur der DDR in den 1990er Jahren hatten viele Ostdeutsche das Gefühl, dass ihre kulturellen Erinnerungen ausgelöscht wurden. Dieses Gefühl der Andersartigkeit besteht bis heute, besonders unter den jüngeren Generationen, die weiterhin Unterschiede zu Westdeutschen wahrnehmen, während solche Unterschiede im Westen zunehmend kaum noch eine Rolle spielen.
Eine der Herausforderungen war, dass die Mehrheit der Eliten durch westdeutsche Personen ersetzt wurde. Dies vermittelte den Ostdeutschen den Eindruck oder die Erfahrung, dass sie nur Deutsche zweiter Klasse seien – und das hat die Menschen wirklich geprägt.Dr. Hanno Hochmuth
Ein zentrales Problem war der Austausch eines Großteils der Eliten durch westdeutsche Personen. Dies vermittelte vielen Ostdeutschen den Eindruck, sie seien nur Deutsche zweiter Klasse – eine Erfahrung, die tiefgreifende Auswirkungen hatte.
Diese ungelösten Probleme haben das Aufkommen populistischer Parteien wie der in Teilen als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Alternative für Deutschland (AfD) befeuert. Im September 2024 erreichte die AfD in Thüringen über 30 Prozent der Stimmen und unterstreicht damit ihren wachsenden Einfluss in der Region. Die Partei greift das Gefühl der Enttäuschung durch die Mainstream-Politik, ungelöste Ungleichverteilungen und den Wunsch nach einer Stimme, die die Anliegen der Ostdeutschen widerspiegelt, auf.
Experten sehen die Wurzeln rechtsextremer Tendenzen sowohl in einem Nationalismus während der DDR-Zeit als auch im Einfluss westdeutscher rechtsextremer Netzwerke nach der Wiedervereinigung. Der Historiker Dr. Hanno Hochmuth erklärt, dass die DDR zwar offiziell antifaschistisch war, doch nationalistische und rassistische Tendenzen bestanden fort und wurden in den Übergangsjahren verstärkt – was einen Nährboden für rechtsextreme Ideologien schuf.
Der Aufstieg der AfD verdeutlicht die anhaltenden Herausforderungen der Wiedervereinigung. Obwohl Ost- und Westdeutsche eine gesamtdeutsche Identität teilen, haben die Erinnerung der Transformationsjahre und die Wahrnehmung von Ungleichheiten eine eigenständige ostdeutsche Identität hervorgebracht – eine Identität, die sich von anderen regionalen Identitäten in Deutschland unterscheidet.
Diese Erwartung, dass der Osten als politischer und sozialer Raum relativ bald verschwinden würde, die hat sich eben gerade nicht bestätigt sondern es gibt eben so etwas wie einen spezifisch ostdeutschen Erfahrungsraum, so einen politischen Raum.Julian Heide
Soziologe Julian Heide betont, dass diese eigenständige ostdeutsche Identität an sich nicht problematisch ist, jedoch wichtige Fragen zum Ziel der deutschen Einheit aufwirft. Sich ausschließlich auf eine verallgemeinerte nationale Identität zu konzentrieren, birge das Risiko, Spaltungen zu vertiefen. Um diese Herausforderungen anzugehen, müsse Deutschland die einzigartigen historischen Erfahrungen der Ostdeutschen stärker anerkennen und ein politisches und kulturelles Umfeld schaffen, das vielfältige Erfahrungen im ganzen Land wertschätzt. Wahre nationale Einheit erfordere, wirtschaftliche und politische Ungleichheiten zu überwinden, um ein Gefühl der Entfremdung zu vermeiden.
Für viele bedeutete die Wiedervereinigung Deutschlands neue Chancen und Freiheiten, während sie für andere Verlust, Desillusionierung und ein anhaltendes Gefühl des Zurückgelassenseins mit sich brachte.
Heute, 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, stellt der Aufstieg rechtsextremer Bewegungen in den letzten Jahren neue Herausforderungen für ein vereintes Deutschland dar.
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2024: Die Schatten der Identität und Aufstieg der Rechtsextremen
SBS German
20/12/202435:29
Credits:
Executive Producer: Benjamin Kanthak
Sound Design und Mix: Max Gosford
SBS Audio: Joel Supple, Max Gosford, Maram Ismail
Interviews: Hanno Hochmuth (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Julian Heide (Institut für Sozialwissenschaften/Humboldt-Universität zu Berlin), Alexandra Falk